Am Ende der Straße wohnte ein Alter.
Er erzählte mir in meiner Jugend seine Geschichten. Geschichten aus seinem Leben. Und alte Geschichten.
Ein Stockwerk über uns wohnte eine Alte.
Sie erzählte mir in meiner Kindheit ihre Geschichten. Alte Geschichten und alte Lieder.
Am Fuße der Rusel ist eine Schlucht.
Eine Schlucht mit einem Blockmeer. Die Schlucht erzählte mir alte Geschichten – ihre Geschichten.
Der Wald dahinter – der Bayerische Wald – wusste viele Geschichten. Alte Geschichten.
Und die Donau brachte viele alte Erzählungen mit, in die schöne alte Stadt.
In St. Hermann ist die älteste Wallfahrt des Bayerischen Waldes.
Einmal, so wird erzählt, fuhr ein Bauer mit seinem Fuhrwerk von der Oberbreitenau herunter, um einen großen einzelnen Holzstamm zur Säge zu führen. Herunten am Bach scheuen die Ochsen; wie gebannt bleiben sie stehen. Vom abrupten Halt fällt der Baumstamm herunter. Und die fertig geschnitzte Statue des Seligen Hermann kommt aus dem zerbrochenen Baum zum Vorschein. Die Wallfahrtstradition kann beginnen.
Vom Ochsen ist heute am Bach noch der Tritt zu sehen – früher wurde er den Wallfahrern zu St. Hermann noch gezeigt.
Am Bogenberg, so erzählten die Alten, kam einst im Jahre 1104 das steinerne Marienbild die Donau flussaufwärts geschwommen – die Wirklichkeit des Wunders. Graf Aswin wollte es vom Himmel bestätigt – war’s der Himmel? Er ritt an steilster Stelle mit dem Ross hinab zum Stein Mariens in der Donau und dann wieder hinan – und als der unmögliche Ritt gelang ließ er die Marienstatue einholen und ab da verehren.
In Jerusalem – ich war schon nicht mehr jung – im Felsendom erzählte man mir vom Fels, die Alte Geschichte von des Propheten Himmelsritt – der Fußabdruck des Pferdes war zu sehen und zu berühren – wie daheim, am Bogenberg!
Unsere Berge, das Waldgebirge Böhmerwald und Bayerwald sei an die 350 Millionen Jahre alt. Und hoch sei es gewesen das Gebirge. Bis zu 8.000 Meter hoch, erzählt man mir zu Hauzenberg im Museum des Granits.
In Usterling bei Landau an der Isar wächst seit vielen Jahrhunderten ein Felsen empor – eine steinerne Wasserrinne aus Kalktuff von Menschenhand seit Anbeginn gezogen.
In der nahen Johanniskirche hat ihm ein unbekannter Alter Meister um 1500 im gotischen Altarflügel zum Taufstein Christi werden lassen.
Das Gäu – der Wald erzählen viele solcher Geschichten.
Auf einem Berg bei Böbrach, zwischen Teisnach und Bodenmais gelegen, hat Sankt Wolfgang einen Felsen abgestützt, damit darunter die Kapelle nicht zu Schaden komme…den Abdruck seiner stützenden Hand zeigt man noch heute.
Eine Welt aus Wundern und aus Wundersamem.
Auch Christus kann den Stein erweichen. So kniete er, als er noch in unseren Gefilden wanderte, sich müde auf den harten Stein, der ob des Heilands sich erweichte. In Grattersdorf, bei der danach benannten Rastbuche sind die Vertiefungen der Knie unseres Heilands noch zu sehen. Verchristlicht – in der Kapelle.
Alte Landmarken, diese seltsamen Vertiefungen im Stein? Einiges spricht dafür, dass diese schalenartigen Vertiefungen weit vor unserer Zeitrechnung in unserem Land schon eine Bedeutung hatten.
Die Götter waren vor den Heiligen, so hab ich’s in Apulien bei Ähnlichem gelernt.
Der Boden unter unseren Füßen birgt seine Schätze aus alten Zeiten – mit jedem Baujahr unserer Häuser und mit jedem Straßenbau vertieft sich unsere Kenntnis von dem, was einstens war.
Und mancher alte Strang wird langsam stetig nochmal älter.
Man kann die Archäologie auch geistig betreiben.
Erzählmotive erweisen sich als tiefer Grund. Gerade so, als wären alte Mythen oft von weither mitgebracht – vielleicht von frühen Ackerbauern – zusammen mit ihrer Kunst, die Scholle zu bebauen. Zu Künzing haben solche Leut‘ vor beinah siebentausend Jahren ein Monument gebaut – und ein paar gleiche Kreisgrabenanlagen den Lauf der Isar entlang.
In Schmiedorf/Osterhofen, Gneisting/Oberpöring, Ramsdorf/Wallerfing und noch ein paar in unserem Niederbayern – früher als Stonehenge – etwa 2.000 Jahre.
Sie blickten zu den Sternen – und bei ihren Mysterien – so steht es zu vermuten, lasen sie dem Himmel und seinen Sternen ihre Geschichten, ihre Mythen ab.
Und Kelten und auch Römer düngten diese Erde mit ihrer Arbeit und ihrem Geist.
Wer sind denn diese Bajuwaren, die wir selber sind – die Forschung breitet ein weites Feld – ich weiß nur – es sind meine Leute – irgendwie.
In Pilsting’s spätgotischer Pfarrkirche steht eine Heilige Katharina, geformt von gotischer Meisterhand – vielleicht war sie vormals gar eine Madonna gewesen – doch ihr Gesicht – so sehen viele unserer Mädchen heut noch aus – mit ihrer Anmut, ihrer Kraft und Ehrlichkeit.
Weit reichen die Wurzeln dieses Landes. Und tief.
Noch einmal zu Bischofsmais:
Einem Bauern entsprang nach durchzechtem Fest des Nachts sein Pferd. Der Bauer und seine drei Knechte fingen in dunkler Nacht im Wald das edle Tier und ritten jetzt zu viert nach Haus. Doch als der Morgen dämmerte, da wurd‘ es ihnen klar, dass dieses Pferd ein Baumstamm war, und alle vier fielen sie davon herab.
Bei den Batak auf Sumatra reiten vier Schamanen bei ihrem Tranceritual auf hölzernen Steckenpferden auf ihrem Himmelsritt auf ihrem Geisterflug, bis dass die Trance nachlässt und sie vom Holzstamm herunterfallen.
Altes magisches Erbe.
Wohl in der Sage der Haimonskinder aus Belgien zu uns gekommen. Dort reiten die Kinder des Grafen Haimon in wilder Flucht vor Karl dem Großen nach Spanien zu einem Zauberer ins Exil – sie reiten zu viert auf einem Pferd den Jakobsweg dorthin – und sowohl, auf eben Sankt Jakobs Wegen kam die Geschichte nach Bischofsmais – auch dort hat Jakobus seinen Kirchenbau.
Und dann der Himmel hier auf Erden!
„Im Barock verschmolzen Heiligenverehrung und heidnisches Erbe zu einer nie geahnten Einheit. Niemand zweifelte an der Realität des Himmels und jeder glaubte an eine von Gott geschaffene Welt, in der sich der Mensch geborgen wusste.
In Bayern entwickelte sich die Epoche des Barock auf ihre eigene Weise. Hier vereinigten sich italienische Pathetik und einheimische Lebensform, französischer Esprit und bäuerliche Sinnesfreude.“ (Benno Hubensteiner)
„Wer nicht im Kloster Altenmarkt wohnt und die Asamkirche sehen will, geht durch den Hof und eine vergleichsweise bescheidene Nebenpforte…
Man bleibt auf der Schwelle stehen, auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Traum – samtener Dämmer löst das Tageslicht ab.“ (Herbert Schindler)
„Allmeist seh ich doppelt – alte Fußspuren überall.“ (Bob Dylan)
„Die Wirklichkeit behandeln wie einen Traum.“ (Reinhard Raffalt)
Da zieht Einer durch seine Heimat und erzählt die alten Geschichten.
Das bin ich